Wenn man heute durch
die Gegend zwischen Wiesbaden, Frankfurt, Darmstadt und
Aschaffenburg kommt, sieht man weit und breit nur flaches
Land; die höchste Erhebung ist gerade 5o Meter hoch. Früher
stand hier ein mächtiger Bergriese, der Wendelstein. Er
reichte von Frankfurt bis tief in den Spessart hinein und
schloss sich direkt an den Odenwald an, dessen höchsten Berg
er um das dreifache überragte. Den Leuten in Hessen galt er
als heiliger Berg. Einmal im Jahr, am Dienstag nach
Pfingsten, pilgerten viele fromme Leute aus dem Umland auf
den Gipfel des Bergs, wo ein heiliger Eremit namens Wendelin
seine Klause hatte. Die Städte Frankfurt und Darmstadt –
Offenbach gab es damals noch nicht – waren dann menschenleer
und von ferne sah man die vielen Leute auf dem Berg, die
dessen dunstig blaue Farbe langsam in ein tiefes Grau
verwandelten. Dieser Tag galt den Frankfurtern als der
höchste Feiertag im Jahr und auch heute noch wird am Dienstag
nach Pfingsten dort nicht gearbeitet.
Als im Laufe der Zeit viele Menschen aus den umliegenden Ländern nach Hessen kamen und die Fahrt zum Wendelstein durch den Gebrauch motorengetriebener Automobile weniger beschwerlich wurde, geriet der Sinn des Wendelinstages langsam in Vergessenheit. Ganze Heerscharen von einfach nur Freizeithungrigen machten sich an vielen Tagen im Jahr auf die Reise zum Gipfel des Wendelstein und am Wendelinstag standen die stinkenden Karren der ungebetenen Wendelinsgäste so eng an den Biegen zum Gipfel des Bergs, daß viele von ihnen nicht umkehren konnten und sich der Berg oft erst spät in der Nacht leerte. Vor der geheiligten Wohnstätte des Wendelin hielten Händler Bratwürste, Bier und allerlei Tand feil und am nächsten Morgen zeigte sich der Berg jedesmal in einem solchen Schmutz, dass sich der Eremit beim Heraustreten aus seiner Klause für seine Besucher schämen musste.
"Ach Herr!", rief er schließlich, "ist das noch ein Platz für einen Heiligen? Wäre ich doch in meiner oberbayerischen Heimat geblieben!" "Hast Du den rechten Glauben?”, erscholl da eine Stimme vom Himmel, "Dann weißt Du doch, daß der Glaube Berge versetzen kann." Wendelin erkannte die Stimme seines Herrn, fiel auf die Knie, und sein Gebet wurde erhört. Den Wendelstein findet man seither im Voralpenland südlich der Stadt Rosenheim. Auch die frommen Orte Fischhausen, Fischbachau, Litzldorf und Windshausen begleiteten den Heiligen und seinen Berg nach Oberbayern, wo die Bewohner ein beschauliches Dasein fristen, fernab des Verkehrs, des Gestanks und dar Betriebsamkeit des südlichen Hessenlands.
Die Gegend, wo früher der Wendelstein gestanden hatte, war eine Zeitlang öd und leer, da sie aber fruchtbar war, wurde sie langsam wieder besiedelt. Auch die von dort verschwundenen Orte baute man an anderer Stelle wieder auf, dabei wurde allerdings aus Fischbachau Fischbachtal, aus Litzbach Lützeldorf und aus Windshausen Wixhausen. Da die Gegend südlich von Frankfurt nun offenes Land war, baute man dort eine neue Stadt und nannte sie Offenbach. An den Wendelstein erinnert nur noch eine Straße in Haibach, wo früher mit dem Aufstieg begannen hatte. Die Orte in der Gegend südlich von Frankfurt sind natürlich nicht so alt und malerisch wie die einstigen, sie wirken eher langweilig und es gibt viele Fabriken dort. Den Wendelinstag feiern die Leute allerdings immer noch am gleichen Tag, nur heißt er jetzt "Wäldchestag". An demselben fahren die Frankfurter und Offenbacher auf den nördlich gelegenen Feldberg oder in den Stadtwald, wo sie schmausen und feiern und den Wald im gleichen Zustand zurücklassen wie früher den Wendelstein.
Weil die Gegend nun so flach ist,
und die Landbewohner das Fahren auf dem steilen Wendelstein
nicht mehr gewohnt sind haben viele von ihnen, vor allem die
Offenbacher, das Steuern ihrer Motorkutschen fast ganz
verlernt und gelten weit und breit als die schlechtesten
Fahrer. Vor allem die Bewohner des Spessarts haben zu klagen,
wenn an den Wochenenden viele Offenbacher, die nach den
Resten des Wendelsteins suchen, die Wege unsicher machen. Man
sagt allerdings, dass es auf dem Wendelstein in Oberbayern
auch nicht mehr so ruhig zugeht wie früher und viele Bewohner
des Rodgaus glauben fest daran, dass der Berg eines Tages
wieder zurückkommt.