Der Aschaffenburger Tatzelwurm


AschaffenburgIn der Rückersbacher Schlucht, zwischen Aschaffen­burg und Kahl, hauste einst ein schrecklicher Tatzel­wurm. Leute, die dort vorbeifuh­ren, sahen oft in der Nähe der Schlucht giftige, stinkige Wolken auf­steigen. Wenn das Ungeheuer seinen feurigen Atem heraus­blies, ward die gan­ze Gegend westlich der Schlucht ver­sengt und sieht heute noch teil­weise wie eine Mond­landschaft aus.

Vor allem aber hatten die Orte in der Umgebung der Schlucht zu lei­den. Wenn das Untier irgendwo auftauch­te, - meist geschah das an ei­nem Wochenmarkt -, ließ er von Verkaufsstän­den und Lagerstätten nichts übrig; ganze Ortschaften wie Kleinostheim, Dettingen oder Kahl, das daher sei­nen Namen hat, hatten manchmal im Winter nichts als Kartoffeln zu essen und nur noch wüste Felder um sich, so gründlich räumte der Tatzel­wurm auf.

D ie Aschaffenburger fühlten sich vor dem Tatzelwurm sicher, weil die Stadt da­mals von einer Stadtmauer um­geben war mit Türmen und ei­ner Burg davor, so dass das Untier nicht hineinkommen konnte. Sie machten sich zuweilen sogar über die Nöte der Nachbarorte lus­tig und hielten, wenn man wieder von dem Ungeheuer gehört hatte, einen Sondermarkt ab.

An einem Tag im Oktober, dem Wolfgangstag, geschah es aber, daß ein Bauer eine Ladung mit Wackersteinen nicht ordentlich abgestellt hatte, so daß sein Wagen ne­ben dem Schloss eine abschüssige Gas­se hinunterrollte und ein Loch in die Stadtmauer schlug. So konnte der Tatzelwurm in die Stadt kommen. In wenigen Stunden hatte das Scheusal die ganzen Läden der Innenstadt leer gefressen, die Grabkir­che im Schöntal zertrümmer­te und die Stadtmauer beim Herstallturm beseitigt und kroch nun feuerschnaubend zurück zum Marktplatz am Schloß, den er in kürzester Zeit leerfraß und dem Erd­boden gleich­machte.

Am schlimmsten war aber, daß der Lindwurm nun wuss­te, wie man in die Stadt gelangte, und an jedem Wo­chenende den Markt abräumte, bevor die Händler auf ihre Kosten gekommen waren. Solches ist einem Aschaf­fenburger aber ganz und gar unerträglich, und man beratschlag­te, was gegen das Untier zu unterneh­men sei, ohne jedoch eine Lö­sung zu finden, da einige der Händler von nun an immer einen Tatzelwurmauf­schlag verlangen konnten, der sie gut le­ben ließ, auch wenn sie nur eine Stunde lang ihre Wa­ren feil zu halten Gelegenheit hatten. So wehrten sich viele der Marktleu­te gegen Maß­nahmen zur Vertrei­bung des Tat­zelwurms und sahen es wohlwollend, wenn er den Leu­ten die Kü­chen leerfraß, weil sie dann manch­mal mehr­mals am Tag bei ih­nen einkaufen mussten.

An einem solchen Samstag hielt jedoch erstmals eine Marktfrau na­mens Elise aus Jena, nach ihr ist die Eli­senstraße und das Jenaer Glas benannt, ihre Waren feil. Es waren feuerfeste Töpferwaren und Kü­chengerät, so handfest wie die Marktfrau selbst, die schon man­chen Räuber, aber auch unliebsame Gendarmen mit ihrem Kochlöffel in die Flucht geschlagen hatte. Diese Marktfrau Elise ergriff nicht wie die an­deren die Flucht, sondern warf, um den Kunden die Vorzüglichkeit ih­rer Waren zu beweisen, dem Untier die besten ihrer feuer­festen Schüs­seln und Töpfe ins Maul, worauf der Tatzel­wurm einen Hustenanfall be­kam und ihm das Feuer aus Nase und Uhren flog, jedoch sein Atem seine Gefahr verlor. Der standhaften Marktfrau gelang es nun, mit ei­ner schweren Bratpfanne den Tatzelwurm zum Einhal­ten zu zwingen und nach mehreren schmerzhaf­ten Schlägen auf seine in der Kälte empfindliche Nase zog er sich in die benachbarte Johannesburg zu­rück.

Dort aber hatte sich ein tapferer Glockenspieler auf den Turm begeben und bewarf das Ungeheuer mit den schwersten der Spielglocken, die das Johannisburger Carillon trug. Eine traf es so gezielt am Kreuz, dass es sich nie mehr richtig krümmen konnte. Der Tatzelwurm verließ dar­aufhin auf Nimmerwiedersehen die Stadt und haust seither an der Mainbeuge bei Stockstadt, wo er über einen Schlot seine giftigen Dämpfe ablässt. Das Glockenspiel des Aschaffenburger Schlosses klingt aber seit diesem Tag etwas schräg, da einige Glocken beim Wurf et­was verbogen wurden.

Da die Stadtväter hin und wieder den Markt an eine an­dere Stelle zu verlegen, findet sich nicht immer eine Marktfrau, die den Lindwurm dar­an hindern könnte, in die Stadt zu kommen. Deshalb haben die Aschaffenbur­ger vor dem Schloss einen Tunnel mit ei­nem Knick dar­in gebaut, denn hier kommt der Wurm mit seinem stei­fen Kreuz nicht  durch und muß unverrichte­ter Dinge wieder umkehren. So haben sie sichergestellt, daß ih­nen niemand mehr an den Markttagen die Läden aus­räumt und das Geschäft verdirbt.

Foto: Yronimus               

Start