Der Drachentöter von Seifriedsburg
Von dem kleinen Ort
Seifriedsburg, der heute zu Gemünden gehört, wird berichtet, dass
dort ein Hirtenjunge mit dem Namen Frieder sich an einen
Zauberstein aus einem Bach gerieben habe, und so unverwundbar
geworden sei. So wäre er in den Krieg gezogen, hätte viele Feinde
erschlagen und gar einen Lindwurm getötet in dem wilden Gelände
hinter Schönau, das heute noch "Lindwurm" heißt. Oberhalb dieser
Schlucht sieht man noch heute die Reste der
alten Burg, in der er ein fürstliches Leben geführt haben soll.
Andere Erzähler berichten, er sei als Sigefried durch die Lande
gezogen und habe eine der edelsten Damen des Landes, die schöne
Grimhilde gefreit. Durch Zauberei hätte er auch dem König der
Burgunden selbst die mächtige Amazone Brünhild verschafft und
einen Schatz von unermesslichem Wert erworben. Er habe dann aber
wegen eines Weibergezänks in einem Hinterhalt sein Leben lassen
müssen und auch seine rachsüchtige Gattin sei am Hof des Königs
Etzel mitsamt dem ganzen Hofstaat des Burgundenkönigs
untergegangen, der Schatz an einem unbekannten Ort in einem tiefen
Wasser versenkt worden.
Ganz so hat es sich freilich nicht zugetragen. In Wahrheit war dem
Hirtenjungen zu Ohren gekommen, dass im Umland ein Ungeheuer sein
Unwesen trieb, das mancherorts den Hirten die halbe Herde gerissen
hätte. Also kleidete er sich an einem windigen Herbsttag in das
Fell eines alten Ziegenbocks mitsamt seinem mächtigen Gehörn und
legte sich bei seiner Herde zur Ruhe. In der Tat schlich sich des
nachts ein greuliches schwarzes Untier heran. Der kühne Frieder
nahm nun beherzt einen großen Stein und erschlug das Scheusal, wobei ihm aber seltsam schien, wie unbefangen es sich ihm genähert
hatte. Am nächsten Morgen sah er dann, dass er den Hund seines
Nachbarn erschlagen hatte. Nun war guter Rat teuer, denn dieser
hätte ihm sein Tun wohl übel vermerkt. Also zeichnete er in
den Sand am Weg Spuren großer Klauen, umgab sie mit Blut und
Pferdeknochen, die er im Wald gefunden hatte, und begab sich, noch
im Bocksgewand, in sein Dorf, wo er behauptete, er hätte mit
seiner Pike einen gar grausigen Lindwurm erstochen und in die
nahegelegene Schlucht gestürzt. Dessen Blut, das auf ihn geströmt
wäre, habe ihn unverwundbar gemacht, denn so, dachte er, wäre er
vor den Stockhieben seines Nachbarn sicher.
So erlangte er im ganzen Land großen Ruhm. Selbst die Edelleute
verneigten sich vor ihm und versuchten, ihn als Gefolgsmann zu
gewinnen. Eines Frammersbacher Fuhrmanns Tochter, genannt die
grimme Hilde, weil sie sonst keinen Jüngling in ihre Nähe ließ,
entbrannte so in Sehnsucht nach ihm, dass sie ihn zum Manne nahm
und mit ihr zog er dann als der gehörnte Ziegenfried durch die
Lande bis hin zum Königshof, wo es ihm gelang, eine seiner
Halbschwestern, die knorrige Brynhilde, zu einer Mätresse
des Landvogts Gemundahar zu machen. Weil aber sein Weib, wie alle
Fuhrmannskinder, ein rechtes Schandmaul war, geriet er
derenthalber mit dem Landvogt in Streit und wurde von Junker
Hugno, dem Vetter und treuen Vasallen Gemundahars, mit einer
Mistgabel aufgespießt, woraufhin er daselbst ein jämmerliches Ende
fand. Die rachsüchtige Witwe wurde dann die Gattin eines
Rittmeisters Ezzo und gab nicht eher Ruhe, bis sie den Landvogt,
seinen Junker und deren ganze Familien auf dem heimatlichen
Etzberg in eine Falle gelockt und allesamt hatte massakrieren
lassen. Daraufhin schlugen sich aber ebenso auch die Kinder
und Geschwister der Kampfhähne die Köpfe ein, so dass niemand mit
dem Leben davonkam. Die Ziegenfriedsburg wie
auch die Ezzelsburg wurden dann von den Bauern geplündert und in
Brand gesteckt. In den ärmlichen Häusern des Nachbardorfs fand man
so in späteren Jahren oft wertvolle Preziosen, und nennt es noch
heute Reichenbuch. Von einem märchenhaften Hort, den des Landvogts
Junker Hugno dann in einem tiefen Fluss versenkt hätte, ist nur
wahr, dass am Ende des letzten großen Krieges ein Schiff mit
allerlei Hausrat, Porzellan und Gerätschaften versank, aus dem
sich die Langenprozeltener noch viele Jahre bedienten, so dass
in fast jedem Haushalt noch ein Topf oder eine Schüssel aus
diesem Hort steht. Nur die Müller im Tal kamen
zu spät, um an der Beute teilzuhaben und blieben arm. Ihre
Behausungen heißen deshalb auch
heute noch die Nothmühlen. In den ehemaligen Mauern der
verfallenen Burg wurden in den Jahren danach die Schweine gehütet,
weshalb sie noch heute die Säufritzburg heißt, nach der auch der
nahegelegene Ort benannt ist.
Nun fragen sich aber viele belesene Menschen, ob ein so
hochgeistiges Werk wie das Lied vom Drachentöter Siegfried, der
edlen Grimhilde und dem König Gundahar in einem so kleinen, einfachen Ort entstehen
konnte. Dabei können dessen wenige hundert Bewohner durchaus
ansehnliche Erfahrungen mit hochgeistigen Dingen vorweisen, denn
in seinen Mauern gibt es nicht weniger als zwölf Brennöfen, in
denen aus den Feldfrüchten der ringsum liegenden Ländereien edle
Brände verfertigt werden. Nicht wenige geraten nach deren Genuss dann in so gehobene Stimmung, dass sie durchaus in
der Lage sind, Lieder zu singen, die man im ganzen Lande gerne
hört. Wovon aber diese Lieder handeln, darüber sind sich die
Schreiber und Gelehrten oftmals nicht einig und vielen der
geistlichen Schreiber müssen einige der Verse auch zu sündhaft
gewesen sein, als dass sie sie hätten überliefern wollen.