In dem kleinen Städtchen Lohr am Rande des Spessarts
lebte einst ein Krämer, dem sein Geschäft nicht genug war
und der sich also auch um das Gastgewerbe sorgte, für das er
im Vorstand tätig war. Nicht sehr zum Gefallen der
Teilnehmenden verlief dort der Alltag, denn die Stadt war im
Inneren wohl nett anzusehen, außen herum wucherten jedoch
hässliche Hallen, die Rauch über der Stadt
verbreiteten und auch im Inneren hatte so mancher derbe
Klotz aus Stein die einst schmucken Fachwerkfassaden
unterbrochen. So gelang es oft nur mit Mühe, zahlende Gäste
in die Pforten der Stadt zu locken und keiner neidete dem
Krämer sein Amt.
Nichts aber ließ indessen der Krämer unversucht, um die
wenigen erfreulichen Eigentümlichkeiten seiner
heimatlichen Gefilde hervorzuheben. Und als er eines
Tages von einer Reise aus dem hessischen zurückkam, von
einem Ort, wo dereinst so mancher kleinwüchsige Mann seine
schwere Arbeit unter Tage hatte verrichten müssen, vermerkte
er verwundert, dass es gerade sieben Berge waren, die er zu
überqueren hatte und just stand in seiner Stadt ein kleines
Schloss und Spiegel waren dereinst hier auch trefflich
fabriziert worden. Nun fehlte noch ein verstoßenes
Töchterlein aus fürstlichem Haus, das sich in den Annalen
der Stadt schnell fand, und schon konnte der Krämer mit der
erstaunlichen Neuigkeit vor die Gelehrten der Historie der
Stadt treten, dass es nur hier hätte sein können, wo das
Schneeweiß und die böse Königin gelebt hätte. Und die sieben
Berge, über die er gekommen sei, hätten dereinst zu den
sieben Zwergen geführt, die dem Boden Erz und Silber hätten
abgerungen. Das Spieglein an der Wand, das der Königin den
Weg zur Tochter gewiesen habe, sei ebenso aus den alten
Manufakturen der Stadt gekommen, wo noch so manche davon im
alten Schlosse hingen.
Das war wohl, so wusste der Krämer, nicht recht, aber der
Überschwang der Gefühle, den die Neuigkeit bei den
Gelehrten der Stadt auslöste, riss auch ihn mit, so dass
keiner daran dachte, die Nachricht auf eine Probe zu
stellen. Bald konnte man stattdessen auf den Blättern
und Aushängen der Stadt ringsumher und im ganzen Land
nachlesen, dass hier die Heimat des Schneeweiß
gewesen sei und die Stadt füllte sich bald mit Reisenden,
die seine Wohnstatt in Augenschein nehmen wollten. Groß war
die Freude der Wirte und Herbergsleute der Stadt und der
Ruhm derselben machte auch vor den Grenzen des Landes nicht
halt. Weithin konnte sich der Krämer in den Blättern und
Postillen seiner Entdeckung rühmen und es gab nicht einen,
der ihn darob mit genierlichen Fragen behelligte.
Wenig hatte der Entdecker der Prinzessin aus dem Mär nun
noch mit seinem Geschäfte zu tun. Stetig reiste er als
Werber für die Stadt umher und oft war schon die Nacht
hereingebrochen, bevor er in seiner Behausung ankam. Große
Plätze und Häuser waren bereits in der Stadt angelegt
worden, um den Gefährten der Gäste Platz zu geben. In ein
solches, just unter dem Schlosse, steuerte der Mann nun
eines abends seine Karosse, müde von der langen Fahrt und
angestrengt von dem schlechten Wetter und dem Dunst, der ihn
bis hierher begleitet hatte. Eng schien ihm diesmal die
Einfahrt und der Winkel, den er für seinen Wagen fand,
dünkte ihm ungewohnt abgelegen. Lange irrte er, den
Ausgang suchend, umher und die Tür, die ihm
schließlich den Weg ins Freie wies, war sonderbar eng und
niedrig. Statt auf dem Pflaster vor dem Schloss stand er
unversehens auch in einem dunklen, seltsamen Raum, vor ihm
stand ein Tisch, gedeckt mit halbleer getrunkenen Krügen
braunen Biers und Resten einer Mahlzeit von
Räucherschinken, grobem Brot und Käse, dahinter ein Lager
und altes Mobiliar. Der Krämer, hungrig und durstig von der
Fahrt, wähnte den Tisch von Gästen verlassen, nahm einen
Schluck Bier und einen Bissen vom Schinken, bevor er dem
Lager zustrebte, um sich ein Weilchen niederzulassen. Da
ließen sich schnelle Schritte vernehmen, zwei kleine,
kräftige Männer bemerkten mit einem erstaunten Ausruf ihr
angebrochenes Mahl und dann sogleich ihren Gast. Ohne nach
dem Woher zu fragen, ergriffen sie ihn und schleppten ihn
mit Knüffen und Tritten in einen Nebenraum, wo eine größere
Anzahl der Kleinwüchsigen um ein stattliches Weib
mit wuchtigen Hüften und bleichem Gesicht unter vollem,
dicken, schwarzen Haar überrascht zu ihm aufsah. Was er
wolle, fuhr das Frauenzimmer ihn an und zwei der Wichte
suchten verstohlen, Glitzerkram und glänzendes Metall vor
seinen Augen zu verbergen. Er habe in der Dunkelheit den
Weg verfehlt, entgegnete der Gefragte, und wolle nichts als
ins Freie hinaus. Wo er sei, wollte er noch fragen, dies
blieb ihm jedoch im Halse stecken, denn ein Haufen der
Kleinen brachte soeben eine ganze Karosse in die Höhle des
schwarzen Weibes mit dem fahlen Gesicht, das er voller
Entsetzen als das Weib auf seinen Anschlägen erkannte, die
Schneeweiß. Sie sollten das Zeug abstellen und
verschwinden, bedeutete sie den Männlein, doch im
Hinausgehen ergriff der Krämer doch die Gelegenheit, einen
derselben zu fragen, ob denn wirklich die Schneeweiß hier
weilte und nicht in einem gläsernen Sarg von einem
Fürstensohn mitgeführt und nach ihrem Erwachen
geehelicht worden war. Er habe richtig gesehen, bekräftigte
der Kleine, doch der Schneeweiß Fürstenhochzeit solle er
vergessen. Kein Apfel, sondern ein Unmaß an Schnaps sei es
gewesen, das die Schneeweiß einst niedergeworfen habe, so
dass man sie für tot gehalten habe. Nun sei aber, nachdem
die Schneeweiß ihren Rausch ausgeschlafen hatte, der
gläserne Kasten unnütz herumgestanden und so habe man
Jungfern geworben, die gern einem Fürsten angetraut
sein wollten, und die, welche im Märchen beschrieben worden
sei, habe dafür fünfzig Taler aus zweifelhaften Geschäften
aufgebracht. Nicht weniger als neunzehn Maiden habe die
Schneeweiß so in hohe Häuser verbracht und sie alle hätten
sich erkenntlich gezeigt und sie auch weiterhin bei ihren
Räubereien unterstützt.
Als dann die Männlein draußen waren, griff das Schneeweiß
den Krämer am Hemde, warf ihn auf das Lager und er spürte
schon den Druck ihrer kraftvollen Schenkel, als ihm in
höchster Not der Gedanke kam, mit einem Lumpen auf das
kärgliche Licht zu werfen und im Dunkel konnte er sich der
strammen Komtess entwinden. Er fand die Tür und
stolperte durch finstere Gänge, hinter sich hörte er die
festen Tritte der Schneeweiß schauerlich hallen. Triefend
vor Angstschweiß gelangte er ins Freie, wo er sich in einem
Hinterhof fand und erst eine Mauer überklimmen mußte, bevor
er auf dem Schlossplatz stand und eiligen Schritts seiner
Behausung zustrebte. Wie ein Stein schlief er und am
nächsten Morgen war sein erstes Vorhaben, dass er zum
Bürgermeister ginge und ihn beschwören wollte, die Stadt
möge für die Schneeweiß nicht längere Zeit als Heimstatt
herhalten, denn in Wahrheit handele es sich hierbei um
finstere Gestalten, deren Geschäfte der Stadt nicht zum Ruhm
gereichten. Dieser aber sah ihn aber nur mit faltiger Stirn
an und fragte ihn dann, ob er denn auch gut geruht habe und
sich wohl fühle. Sodann hörte man ein Poltern im Nebenraum
und der Krämer sah zu seinem unendlichen Schrecken am
Revers des Amtsträgers einige der dicken, schwarzen Haare
haften, die er am Vorabend auf dem Kopfe der Schneeweiß
gesehen hatte. Hinter der Tür zum Nebenraum hörte er nun
ein Fauchen, das er wohl kannte. In dem Nebenraum war nun
aber sonst immer der Stadtkämmerer zu finden, der sicherlich
nun das Opfer der Schneeweiß geworden war. Hastig
verabschiedete sich der Krämer, eilte die Treppe hinunter
und machte sich kummervoll klar, dass er bei den Herren der
Stadt das Spiel verloren hatte, weil gegen die furchtbaren
Waffen der Schneeweiß niemand derselben gefeit war.
Aber auch die kleinen Gehilfen des Weibes konnte er bald
darauf in der Stadt ihr Unwesen treiben sehen: In den
Straßen der Stadt rissen sie die Wege auf und stellten
davor Schilder auf, mit denen sie die Besucher der Stadt
und selbst die Bewohner in die Irre lockten. Blieben sie
dann aber in einer der engen Gassen der Stadt stecken
und wussten nicht mehr aus noch ein, kamen zwei grün
gekleidete Zwerge daher und begehrten ein Wegegeld von den
Kutschern. Am Markt und ringsumher hatten die Wichte alten
Krempel aus den Kaufhäusern auf die Plätze und Gassen
geschafft und ließen keinen Fremden vorbei, bis er eines der
schlichten Stücke zu einem Wucherpreis erstanden hatte.
Zuflucht suchte der Krämer schließlich auf einem großen
Feste in einem Schankzelt, mußte aber auch dort sogleich
wieder der Schneeweiß Zwerge erblicken, und es waren weit
mehr als sieben geworden: hier verkaufte einer den Kindern
nutzlose Papierchen und gaukelte ihnen vor, dass sie
allerlei Tand dafür erhielten. Öffneten sie sie, war das
Papier jedoch leer; dort schritt einer, mit zwei schweren
Krügen und einer Schweinskeule versehen, an einen Tisch und
nahm den Zechern dafür eine halben Taglohn. Am anderen Ende
waren zwei der grünen Wichte eines armen Mannes in einer
offenen Karosse habhaft geworden, der dann erst einen Sack
mit Luft füllen musste und dem sie dann sowohl seinen Wagen
wie die Lizenz zum Fahren abnahmen. Durch den Hintereingang
begab sich der Krämer auf den Weg zurück in die Stadt,
bemerkte zu seiner Überraschung einen neuen Fußweg dorthin,
sah sich da aber unversehens wieder in den Gängen und
Gewölben, die zur Schneeweiß führten. Lärm und Geräusche
hörte er schließlich hinter einer Wand, öffnete einen
Verschlag und fand sich im Gewölbe einer Schenke, wo aber
zu seinem Schrecken zwei braun geschürzte Wichte
die Bewirtschaftung übernommen hatten und einer davon einer
Gesellschaft taumelnder Fremder, die kaum noch bei Sinnen
waren, die Tafel überreich und fett deckte. Schwer
atmend stürzte der Krämer zurück, fand wieder eine Tür
und landete schließlich zu seiner Erleichterung im Rathaus
bei den Amtsstuben, wo er rasch einen Weg ins Freie fand.
Nun aber hatte der gute Mann für den nächstfolgenden Tag
einen Auftritt mit Kundschaftern ferner Länder anberaumt,
die seine Neuigkeiten noch bis in den letzten Winkel der
Erde verbreiten wollten. Dort war wohl vorgesehen, dass er
für seine Stadt als den Stammsitz der schönen
Märchenprinzessin Beweis führte, er aber nahm sich vor, der
ganzen Welt die Wahrheit zu offenbaren: Freiweg wollte er
berichten, dass er die Geschichte vom Schneeweiß nur
erfunden und dass es sich beim Schneeweiß bestenfalls nur um
eine Räubersbraut handele, die man woanders suchen sollte.
Als er aber vor der Schar der wissbegierigen
Berichterstatter seine harten Worte sprechen wollte, da
verspürte er eine grobe Hand auf seiner Schulter und dichte,
schwarze Haare, die seine Wange streiften. Nicht wagte er,
sich umzusehen und, selbst weiß wie Schnee, berichtete er
den Herren aller Länder, dass das Schneeweiß allhier
geboren, vor der bösen Stiefmutter zu den sieben Zwergen
geflohen war und dass das Schloss der Stadt nun wohl das aus
dem Märchen sei. Und es ward in gar viele Länder unter dem
ganzen Erdkreis verbreitet, und von fern über das
große Wasser kamen von nun an die Reisenden zu dem
Schneeweiß und seinem Schloss.
So kommt es, dass die kleine Stadt am Rande des Spessarts
auch heute noch als die Heimstatt der Schneeweiß allerorten
angepriesen wird. Jüngere Aushänge und Flugschriften zeigen
den Ort indessen aber auch als einen Hort der
Spessarträuber, und deren einige und gar manche Räume des
kleinen Museums der Stadt zeigen Bilder der verwegenen
Gesellen. Wer aber sich dahinter verbirgt, das erfährt der
Besucher nicht.