Die Hexe von Gemünden
Fährt man auf der Straße nach Würzburg an Gemünden vorbei, sieht man zur Linken einen kleinen Turm mit spitzem Dach, an dem drei Meter über dem Boden die Eingangstür liegt. Diesen nennt man den Hexenturm, denn dort lebte vor vielen Jahren eine kleine Hexe, die tagsüber verborgen blieb, aber des Nachts auf ihrem Besen durch die engen Gassen der kleinen Stadt zischte, so daß die Leute, die spät abends noch unterwegs waren, die Köpfe einzogen.Die Hexe war eine gute Besenreiterin, sonst wäre sie nimmer mit ihrem großen Topfe in ihr Löchlein am Turm hineingekommen. In diesem ihren Topfe sammelte sie täglich an der über der alten Stadt gelegenen Scherenburg giftige Kräutlein, flog dann zum Main hinunter, wo sie sich einige Molche und Salamander fing und kochte mit diesen Zutaten ein Zaubertränklein, das sie mit ihren dreihundertvierzig Jahren noch jung bleiben ließ und ihr allerlei Verwandlungen ermöglichte. Viele der Bürger in der Stadt hatten sich schon ihrer Hilfe bedient und sie langsam in ihr Herz geschlossen, auch wenn der Stadtpfarrer von solcherlei Geschäften abriet. Mit ihrem Zaubertopf hatte sie so dem kleinen Saaletalbähnlein ein nie erlöschendes Feuerchen in die Kessel gehext, so daß diese Bahn auch heute noch Tag und Nacht fährt und keinen Strom braucht.
Mit der neuen Zeit baute man aber eine große Straße an ihrem Turm vorbei und da hier zuweilen Fahrzeuge von beträchtlicher Höhe und Geschwindigkeit ihren Weg zum Turmeingang kreuzten, denen sie oft nur unter Schwierigkeiten ausweichen konnte, blieb zuweilen auch ein Fetzen Stoff von ihrem Kleid hängen und ihr Besen bekam einige Kratzer. Die Polizei des Ortes hatte ihr wohl zugesichert, Fahrer von Großfahrzeugen zu einer vorsichtigeren Fahrweise an ihrem Heim zu veranlassen, sie beschränkte sich aber nachher doch, wie in allen anderen Städten auch, darauf, Parksünder aufzuschreiben und unnütze Fahrzeugkontrollen durchzuführen. An einem milden Maiabend, als sie mit ihrem Suppenkessel heimkehrte, konnte sie einem großen Silowagen nicht mehr ausweichen. Sie blieb mit dem Topf am Heck des Wagens hängen und der Inhalt ergoss sich in dessen Inneres. Die Hexe geriet darüber so in Zorn, daß sie die Scherenburg einstürzen ließ und die Köpfe der Stadtoberen benebelte, so dass sie seither keine vernünftige Entscheidung mehr treffen konnten.
Die Hexe ward seither in Gemünden nicht mehr gesehen. Der Silowagen aber, dessen Inhalt sich mit der zauberkräftigen Suppe vermischt hatte, war am nächsten Morgen angefüllt mit einer pechartigen Masse und füllte sich jede Nacht erneut damit. Die Beseitigung des zähen Zeugs bereitete den Stadträten anfangs erhebliches Kopfzerbrechen, schließlich fand man aber Verwendung dafür als Bedeckung der in Gemünden in höchst unerfreulichem Zustande befindlichen Wege. Als diese nicht höher bedeckt werden konnten und auch ein allmonatliches aufreißen nicht weiterhalf, sann man auf den Bau einer Brücke, da die langen Umwege zum gegenüberliegenden Mainufer schon lange ein Ärgernis waren, und als diese stand, gefiel sie den Gemündenern so gut, dass sie noch sieben weitere bauten. Bei all diesen trugen sie jedoch Sorge, dass sie nicht ein Menschenalter lang hielten, und so konnte schon bald die Mainbrücke wieder abgebrochen werden, damit auf einer neuen Platz für den Hexenbrei war.
Wenn man also sagt, dass die Gemündener viel Pech haben aber dafür so manche Brücken bauen können, meint man das durchaus wörtlich, denn andere Städte müssen für solch kostspielige Aufwendungen vorher von außerordentlichem Glück gesegnet gewesen sein und schrecken trotzdem davor zurück. So müssen sie ihren Bürgern auch nicht einen so stattlichen Obulus abverlangen wie die Gemündener. Da diese aber nun schon alles zweimal überbrückt haben, fürchtete man, dass irgendwann einmal die ganze Stadt bis hin zur Scherenburg und über alle Dächer hinaus mit Pech bedeckt sein würde. Deswegen gingen die Stadtoberen dazu über, auch in der Umgebung große Plätze und Wiesen mit der schwarzen Massen zu bedecken, auf denen man neue Kaufhäuser errichtete und die Straßen im Kreis herum führte. Und siehe da, nachdem nun die Gemündener diese nicht auf dem Fußweg erreichen konnten und in der Stadt die alten Kaufläden und Werkstätten verfielen, waren die Leute auch bereit, sich für den Weg dorthin neue Karossen zu beschaffen und für diese wurden wiederum weitere Straßen und Brücken benötigt.
Nun fragte aber einst ein alter Hofstettener zaghaft an, ob es nicht besser wäre, sein Dorf und auch andere abgelegene Gemeinden im Wald mit kleinen Kaufläden, und vielleicht sogar mit einer Schule oder einem Gasthaus auszustatten, denn all dieses war den Hofstettenern durch ihren Hang zu Fahrten mit ihren Karossen verloren gegangen. Ein Apotheker und ein tüchtiger Medicus hätten sich sogar schon bereit erklärt, sich hierzu im Ort niederzulassen. Da aber erhoben die Wegemacher und Bauleute ein großes Geschrei und drohten dem Rat, so würde ein weiterer großer Teil der Bürger der Stadt, in der es ohnehin wenig Manufakturen gibt, seine Arbeit verlieren. Und so zog der vorlaute Bürger seinen Kopf ein und schwieg fürderhin. Der ehrwürdige Rat der Stadt aber erwog, ob man nicht noch eine weitere Brücke und eine große Straße auf der anderen Mainseite bauen und auch das andere Mainufer mit der schwarzen Masse bedecken könnte, damit auch große Schiffe mit vielen hundert Fahrgästen dort anlegen könnten.
Diese müssten in der Stadt aber lange nach einem Einkaufsladen oder einer gastlichen Stätte suchen, denn mit diesen ist das alte Gemünden nicht so reichlich gesegnet wie mit dem schwarzen Pech. Wer sich aber gar von dort aus nach Hofstetten verirrt, wird dort nicht nur kein Haus des Gastes, sondern nicht einmal einen Ort finden, an dem er auch nur ein Glas Wasser oder ein Scheibchen Brot erstehen könnte.
Foto: Yronimus
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