Die Bergrothenley


RothenfelsEtwa auf halbem Wege zwischen Lohr und Markthei­denfeld ragt über der kleinen Stadt gleichen Namens die Burg Rothenfels auf steilem Berg empor. Unten vor dem Ort schnaufte einst ein kleines Bähnlein vorbei, das am Ende des Orts über eine kleine Brücke fuhr, un­ter der sich ein Sträßlein hindurch wand. Weder von dem Bähn­lein noch von der Brücke ist heute noch et­was zu sehen. Vielmehr führt eine neue Straße am Ort vorbei, die dem hurtigen Chauffeur nicht durch Hang noch durch Biegung sein Können abverlangt.  Und doch säumen zer­rissene, ausgebrannte Karossen den Weg, in denen so mancher ein grau­siges Ende genommen und Ratlosigkeit herrscht in der kleinen Stadt ob des Fluchs, der über ihren Wegen liegt.

Man erzählt im Ort, das Unheil habe seinen Lauf ge­nommen, seit eine bezaubernde junge Maid in der Abendsonne auf der Burg ge­sessen und den Motorrad­fahrern zugepfiffen habe. So hätten sie, vor Liebe blind, Kurve und Bahndamm nicht beachtet, seien densel­ben hinaufge­fahren und hätten so sich und ihre Maschinen in die Erde gepflügt. Die­se sei so zusehends eingeeb­net worden.

Von der Bergrothenley selbst erzählt die Sage, sie sei eine blühende Maid von hinreißender Schönheit gewe­sen, zu der schon in frühes­ter Jugend von weither die Mofa- und Motorradfahrer gekommen seien, um sie in die Diskothek nach Windheim mitzunehmen. Ihr Va­ter habe ihr aber jedesmal streng verboten, auf den Sozius zu stei­gen. Als sie in die Jahre kam, wollte sie selbst ein Motorrad haben, ihr Vater erlaubte ihr aber nur, mit dem Fahrrad zu dem Metzgerla­den, wo sie Wurst ver­kaufte, zu fahren.

Eines Nachts hatte sie das langsame Dahinfahren satt. Heimlich stahl sie sich aus der elterlichen Behausung, entwendete die Yama­ha ihres Nachbarn und ließ sie am Berge vor dem Haus anrollen. Stundenlang fuhr sie die Hügel hinauf und hinunter, bis der Inhalt ihres Tankes zur Neige ging. Mit den letzten Tropfen brauste sie noch den Burgberg zur Feste Rothenfels hinauf, konnte im Hof aber nicht mehr richtig brem­sen und landete auf dem Burgdach.

Weil viele Leute im Ort sie kannten, vermied sie es aber, um Hilfe zu rufen, sondern pfiff den im Tal vorbei­fahrenden Motorradlenkern zu. Diese waren aber alle so von ihrer Erscheinung so geblendet, daß sie von der Straße abkamen und ihre Maschinen zu Schrott fuh­ren. Als die Maid dieses gewahr wurde, rief sie aus: „Oh ich Arme, säße ich doch wieder auf meinem Fahrrad und könnte die Scheiben der saftig rie­chenden Schinken­wurst der freundlich lächelnden Kundschaft zurei­chen!", und stürzte sich in die Tiefe.

Seither kam kein Motorradfahrer mehr an der Kurve un­terhalb der Burg vorbei, ohne Gefährt und oft auch Le­ben lassen zu müssen. Groß wa­ren die Klagen der Ver­sicherer und man erwog, der Jung­frau das Handwerk zu legen. Ein Jüngling sann, sich seinen Weg durch Wie­sen und Felder zu bahnen, um vor ihrem Anblick ge­schützt zu sein, und sich das zauberhafte Wesen herunt­erzuholen. Er kam auch wohlbehal­ten mit seinem Motorrad an der Burg an, stellte es vor dem Tor ab und machte sich auf die Suche nach der Bergrothenley. In der Burg fand er aber nur eine große Zahl unifor­mierter Wandervögel und Schreiber der Theologica nebst eini­gen sonderbaren Mönchen vor. Auf dem Dach er­spähte er nichts als gro­ße Mengen garstigen Taubenmists und mußte noch die Beschimp­fungen des Hausmeisters hin­nehmen, der von der Bergrothenley nichts wissen woll­te. Als er unverrichteter Dinge wieder von dannen zie­hen wollte, fand er aber auf dem Burgparkplatz sein schnelles Gefährt nicht wieder. Viele Freunde und Hel­fer, die er an­ging, muß­ten ebenfalls nach langen Bemü­hungen die Suche aufge­ben.

Seither sieht man in dunstigen Vollmondnächten im Alt­weibersommer oft des Nachts den armen Motorradler umherirren, der die Wan­derer und heimkehrenden Wirtshausgäste mit einem tiefen Brum­men er­schreckt. Auf der Burg sieht man immer noch Scharen von jun­gen Pfadfindern, die aber bis heute noch kein Motorrad ge­funden haben. Die Bergrothenley  aber holte weiter­hin die stolzes­ten Feuer­ross-Reiter vom Sattel.

Endlich sann nun der Rat der kleinen Stadt, ihrem Trei­ben ein Ende zu bereiten. Kurzerhand beschloss er, Bahnstrecke samt Dämmen und Brücken gänzlich ein­zuebnen und eine Straße darauf zu bauen, so dass kei­ner mehr vom Wege abkäme oder Gelegenheit hätte, auf die Jung­fer zu achten. Zu ihrem großen Erschre­cken mussten die Stadtvä­ter fortan aber sehen, dass gar viele Fahrzeuglenker jetzt wohl nicht mehr der Maid zu Opfer fielen, aber wie in einem Rausch einander an Eile zu übertreffen suchten, dabei die entgegen kom­menden Kutschen aufs Korn nahmen oder gar ohne Fremdes Zutun ihr Gefährt und sich selbst zu Schanden fuhren. Immer häufiger läu­tete das Totenglöck­lein, und im Ort fragte man sich, welcher böse Geist nunmehr wohl sein Unwesen triebe und seinen Tribut verlang­te. 

Große Magier und weise Gelehrte wurden zu Rate ge­zogen, mussten je­doch unverrichteter Dinge wieder ab­ziehen. Einem steinalten, hell­sichtigen Manne gelang es aber schließlich, mit Hilfe von Orakeln al­ter Drui­den das Geheimnis zu lüften: nichts anderem als ihrem eige­nen Wahn­sinn seien die Unglückseligen zum Opfer gefallen. Kein Ge­spenst, kein Unhold, keine böse Fee könnte nämlich so großes Unheil anrich­ten. Gegen Dummheit aber sei kein Kraut gewachsen.

So wünschen sich gar viele Rothenfelser wieder ihr Bim­melbähnlein, das schmale Sträßlein mit den engen Kur­ven und die steilen Bahn­dämme zurück.  Darauf wer­den sie aber wohl bis zum St.Nimmerleins­tag warten müssen, denn die Einfalt, die man heute auf dem neu­en Schnellweg findet, hatte schon vorher von den Köp­fen der Stadtvä­ter Besitz ergriffen und so haben sie die al­ten Wege und Trassen so gründlich dem Erdboden gleich gemacht, dass kein Mensch und keine Macht der Welt sie jemals wieder herstellen kön­nen.

Wenn aber heute die Bergrothenley einsam im Abend­licht pfeift, so gruselt es niemand mehr und so man­cher  hat sogar insgeheim sein Gefallen daran, weil er dann etwas anderes als das Lärmen der Ben­zinkarossen hört.

Foto: Georg Lösti                  

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